Nach ca.
ein bis zwei Stunden, eine Uhr besaß keiner mehr, erreichten
wir das Lager, Quarantänelager
genannt. Es lag nicht weit vom Dorf Flessenow, Kreis Schwerin,
im Wald.
Die 35 Blockhütten waren provisorisch
von den russischen Truppen nach dem Ende des Krieges zur Unterbringung
gebaut worden. Russische Soldaten bewohnten dieses Lager bis zur
Rückführung
in die Sowjetunion. Im Lager gab es keine Wasserversorgung,
nur für die Küche wurde Wasser mit Kesselwagen herangefahren,
keine sanitären Anlagen, kein Strom und kein Telefon.
Endlich
waren wir in einem Lager. Endlich einmal zur Ruhe kommen, schlafen,
die Glieder gerade machen. Und dann, was dann? Keiner wußte
eine Antwort. Der Innenraum der Blockhütte war bestimmt
durch die an den Seitenwänden zusammengezimmerten einfachen
Holzpritschen, auf denen wir ohne Unterlagen schliefen. Im Mittelgang
befand sich ein aus einem alten Benzinfaß konstruierter Ofen,
der Tag und Nacht beheizt werden mußte. Für das nötige
Brennholz waren wir selbst verantwortlich. Es gab ja genügend
davon.
Eine gut eingerichtete Küchenbaracke
sorgte für unsere
Verpflegung entsprechend den damaligen Möglichkeiten.
Die Lebensmittelrationen, die pro Person ausgegeben wurden,
reichten nicht aus, um satt zu werden. Brühe aus Dörrgemüse,
in Wasser gekocht, auch Stacheldrahtsuppe genannt, gab es. Graupensuppe
oder Grützsuppe waren schon Festessen. Salz und andere Gewürze
waren nicht vorhanden. Am Abend wurde Brot ausgegeben, russisches
Kommißbrot. Wir 6 Personen erhielten ein Brot.
Mutter
und Tochter Heintze waren auch mit uns in der Hütte, lagen
neben uns auf dem Pritschengestell. Beide starben kurz hintereinander
im Monat Dezember und wurden auf dem Lagerfriedhof bei Flessenow
beigesetzt. Die Totenliste der dort Beigesetzten befindet sich
im Heimatverein Rubow, der auch den Friedhof betreut.
Mitte Dezember 1945 wurde unsere
Schwester Brigitte wegen ihrer erfrorenen Füße mit
einem Pferdefuhrwerk in das Krankenhaus Schwerin gebracht. Die
Mutter begleitete sie. Auf der Hinfahrt
durfte sie nicht mit auf den Wagen, ging 10 km zu Fuß. Auf
der Rückfahrt durfte sie mitfahren. Ein Kanten trockenes Brot
war ihre Tagesration für die Fahrt. Ob wir unsere Schwester
Brigitte wohl wiedersehen werden? Wir sahen sie tatsächlich
nie mehr wieder. Was war sie für ein lebensfrohes und sportliches
Mädchen gewesen.
Hier im Lager verlebten
wir 1945 die erste Friedensweihnacht, ein trauriges und nachdenkliches
Fest: Vater verloren, Brigitte im Krankenhaus, die Zukunft ungewiß. In
unsere Hütte hatte jemand einen
Tannenbaum geholt, aus Talgresten war eine Kerze entstanden. Eine
Stulle mit Schmalz beschmiert und etwas Zucker - das Weihnachtsgeschenk.
Dann hatten wir alle uns um das Faß gesetzt, in dem ein kleines
Feuer brannte und das ein wenig Wärme verbreitete. So saßen
wir vor dem Faß, bemüht, die Tränen zurückzuhalten.
Irgendwer begann zu singen „ Oh Tannenbaum, oh Tannenbaum“. Der eine
oder andere in der Hütte war näher an das Feuer gerückt.
Weitere Stimmen fielen ein. Bald waren alle um den Ofen versammelt
und sangen das alte, vertraute Lied von der stillen, heiligen Nacht. |
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Unsere Schwester Brigitte 1937
Auszug aus der Festschrift „775 Jahre Gemeinde Rubow“, das Jahr 1945.
Siehe Anlage 5 |