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Einleitung Josef Leo Johannes
Das Lager Flessenow      
 

Nach ca. ein bis zwei Stunden, eine Uhr besaß keiner mehr, erreichten wir das Lager, Quarantänelager genannt. Es lag nicht weit vom Dorf Flessenow, Kreis Schwerin, im Wald.

Die 35 Blockhütten waren provisorisch von den russischen Truppen nach dem Ende des Krieges zur Unterbringung gebaut worden. Russische Soldaten bewohnten dieses Lager bis zur Rückführung in die Sowjetunion. Im Lager gab es keine Wasserversor­gung, nur für die Küche wurde Wasser mit Kesselwagen herangefahren, keine sanitären Anlagen, kein Strom und kein Telefon.

Endlich waren wir in einem Lager. Endlich einmal zur Ruhe kommen, schlafen, die Glieder gerade machen. Und dann, was dann? Keiner wußte eine Antwort. Der Innenraum der Blockhütte war bestimmt durch die an den Seitenwänden zusammengezimmerten einfachen Holzpritschen, auf denen wir ohne Unterlagen schliefen. Im Mit­telgang befand sich ein aus einem alten Benzinfaß konstruierter Ofen, der Tag und Nacht beheizt werden mußte. Für das nötige Brennholz waren wir selbst verantwortlich. Es gab ja genügend davon.

Eine gut eingerichtete Küchenbaracke sorgte für unsere Verpflegung entsprechend den damaligen Möglichkeiten. Die Lebensmittelrationen, die pro Person ausgegeben wurden, reichten nicht aus, um satt zu werden. Brühe aus Dörrgemüse, in Wasser gekocht, auch Stacheldrahtsuppe genannt, gab es. Graupensuppe oder Grützsuppe waren schon Festessen. Salz und andere Gewürze waren nicht vorhanden. Am Abend wurde Brot ausgegeben, russisches Kommißbrot. Wir 6 Personen er­hielten ein Brot.

Mutter und Tochter Heintze waren auch mit uns in der Hütte, lagen neben uns auf dem Pritschengestell. Beide starben kurz hintereinander im Monat Dezember und wurden auf dem Lagerfriedhof bei Flessenow beigesetzt. Die Totenliste der dort Beigesetzten befindet sich im Heimatverein Rubow, der auch den Friedhof betreut.

Mitte Dezember 1945 wurde unsere Schwester Brigitte wegen ihrer erfrorenen Füße mit einem Pferdefuhrwerk in das Krankenhaus Schwerin gebracht. Die Mutter beglei­tete sie. Auf der Hinfahrt durfte sie nicht mit auf den Wagen, ging 10 km zu Fuß. Auf der Rückfahrt durfte sie mitfahren. Ein Kanten trockenes Brot war ihre Tagesration für die Fahrt. Ob wir unsere Schwester Brigitte wohl wiedersehen werden? Wir sahen sie tatsächlich nie mehr wieder. Was war sie für ein lebensfrohes und sportliches Mädchen gewesen.

Hier im Lager verlebten wir 1945 die erste Friedensweihnacht, ein trauriges und nachdenkliches Fest: Vater verloren, Brigitte im Krankenhaus, die Zukunft ungewiß. In unsere Hütte hatte jemand einen Tannenbaum geholt, aus Talgresten war eine Kerze entstanden. Eine Stulle mit Schmalz beschmiert und etwas Zucker - das Weihnachtsgeschenk. Dann hatten wir alle uns um das Faß gesetzt, in dem ein kleines Feuer brannte und das ein wenig Wärme verbreitete. So saßen wir vor dem Faß, bemüht, die Tränen zurückzuhalten. Irgendwer begann zu singen „ Oh Tannenbaum, oh Tannenbaum“. Der eine oder andere in der Hütte war näher an das Feuer gerückt. Weitere Stimmen fielen ein. Bald waren alle um den Ofen versammelt und sangen das alte, vertraute Lied von der stillen, heiligen Nacht.


Unsere Schwester Brigitte 1937

Auszug aus der Festschrift „775 Jahre Gemeinde Rubow“, das Jahr 1945. Siehe Anlage 5
     
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