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Einleitung Josef Leo Johannes

Nach Drieberg, Kreis Gadebusch

     
 

Am 14. Januar 1946 ging ein Eisenbahntransport vom Bahnhof Ventschow ab ins für uns Ungewisse. Dieser Zug war mit denen von 1945 nicht zu vergleichen. Es war ein Personenzug mit unbeschädigten Waggons und beheizt. Wohin geht es? Keiner sagte es uns. Die Fahrt ging los. Erster Halt. Wir staunten nicht schlecht: „Schwerin Hauptbahnhof“. Wir erinnerten uns: hierher sollten wir evakuiert werden. Kein Kommando zum Aussteigen. Die Lok legte ab, wurde am anderen Ende des Zuges angekoppelt, und ab ging's in Richtung Westen. Wo geht es wohl hin? Fragende Blicke. Keine Antwort. Nach ca. einer Stunde wieder Halt, endgültiger Halt.

Wir standen an der Laderampe des Bahnhofs Gadebusch. Hier an der Laderampe standen mehrere Pferdefuhrwerke. „Alles aussteigen!“ hieß es. Einen Kommandierenden sah ich nicht. Die Kutscher der Fuhrwerke riefen. „Hier 8 Personen!“, „Hier 6 Personen!“ usw. Wir stiegen auf einen dieser Wagen. Etwas Stroh lag auf dem Boden, kein Verdeck, eisiger Wind, Schneetreiben, der Kutscher in einen Schafsfellmantel gehüllt. Wir in unserer leichten Bekleidung, nicht auf den Winter eingestellt, froren fürchterlich. Frage an den Kutscher, es war der Großbauer Heinrich Böthling:

„Wo fahren wir hin?“ „Nach Drieberg Dorf“, sagte er.

„Wie weit ist es dorthin?“ „10 km“.

„Oje, am Ende der Welt und wieder in Richtung Schwerin!“

Dort angekommen, wurden wir, etwa 15 Personen, im Saal der Gaststätte Juby/Nagel untergebracht. Diesen Saal bewohnten schon entlassene Soldaten der deutschen Wehrmacht, die ihre Angehörigen noch nicht gefunden, bzw. bisher keine andere Bleibe gefunden hatten. An beiden Seiten des Saals Doppelstockbetten: links die ehemaligen Landser, rechts die Frauen mit ihren Kindern und die älteren Ehepaare. Der Bettenplatz reichte nicht hin und her. Helmut und ich schliefen auf Bänken. Welch buntes und anstößiges Durcheinander! Was hatte man sich in diesem Dorf nur ausgedacht bei der ihnen befohlenen Unterbringung der Flüchtlinge. Die Groß- und Kleinbauern bewohnten weiterhin ihre Wohnräume mit wenigen Familienangehörigen und ihren Arbeitern. Ein Plumpsklosett für zwei Personen gab es auf dem Hof, kaltes Wasser an der Pumpe. An die persönliche Hygiene war gar nicht gedacht.

Für dieses kleine Lagervolk gab es einen Lagerleiter, Herrn Nölker. Er war aus Königsberg und als Soldat hierher verschlagen worden. Er wurde uns später ein guter Vertrauter und Freund. Die Verpflegung des Lagers organisierte er mit den uns auf den Lebensmittelkarten zustehenden Produkten und sorgte für ein warmes Mittagessen.

Nach unserem Eintreffen in Drieberg sorgte sich unsere Mutter um Brigitte.

„Wie komme ich nach Schwerin?“

Sie machte sich alleine auf den Weg. Warum Helmut und ich nicht mitgingen, weiß ich nicht. Bestimmt war uns der Weg zu weit. Eigentlich waren wir unfair. Im Notlazarett des Krankenhauses, es war in der Hospitalstraße (Schule) untergebracht, fand sie Brigitte, die sich sehr freute, ihre Mutter nach gut vier Wochen wiederzusehen. Sie zeigte die Geschenke, die sie Weihnachten erhalten hatte, aber auch ihre amputierten Füße und weinte dabei sehr. Mutter war erschüttert, als sie uns dies bei ihrer Rückkehr erzählte. Ein weiteres Mal war unsere Mutter nicht im Krankenhaus, soweit ich mich erinnern kann.

Im Februar 1946 trafen für uns in Drieberg zwei Telegramme ein. Im ersten stand:

„Tochter Brigitte geht es sehr schlecht. “, im zweiten:

„Tochter Brigitte ist verstorben.“

Brigitte ist am 19. Februar 1946 gestorben.

Mutter und ich machten uns zu Fuß auf den Weg nach Schwerin, um Näheres zu erfahren, auch was geschehen müßte. An diesem Tag regnete es in Strömen, und es war auch sehr kalt. Wir hatten uns Decken umgehängt, um vor Kälte und Regen geschützt zu sein. In der Hospitalstraße erfuhren wir, Brigittes Leiche wäre auf dem Schweriner Friedhof Obotritenring. Wir fuhren mit der Straßenbahn dorthin. In der Friedhofsverwaltung dann die Auskunft, Brigitte wäre schon in einem Massengrab beigesetzt, sie hätten nicht gewußt, ob es noch Angehörige gäbe. Wo dieses Grab ist, wollte man uns nicht sagen. Meine Mutter antwortete:

„Wer weiß, wie die Stelle wohl aussieht. “

Im Saal der Gaststätte kampierten wir bis Ende April. Der Saal mußte für den Tanz zu Ehren des 1. Mai 1946, des Kampftages der Werktätigen, geräumt werden. Die Bauern mußten Unterkünfte für uns schaffen. Wir mit unserer Restfamilie und noch weitere Heimatlose, insgesamt 5 Erwachsene und 6 Kinder, bezogen den Kornboden beim Bauern Heinrich Böthling, der primitiv zur Unterkunft vorbereitet war. Nach ein bis zwei Monaten räumten wir den Kornboden. Wir bezogen ein kleines Zimmer im gleichen Haus, ca. 14 qm, darin zwei Bettgestelle, ein Tisch und zwei Stühle. Den Herd in der Küche des Bauern durften wir benutzen. Zum Kochen hatten wir nichts. Oft gab uns die Bauersfrau von ihrem Mittag etwas ab.

Zum Kauf von Grundnahrungsmitteln erhielten wir Lebensmittelkarten. Zum Einkaufen gingen wir die 10 km nach Gadebusch. Für Uschi holten wir täglich einen halben Liter Milch vom Bauern. 1947 bezogen wir ein größeres Zimmer mit Flur beim Bauern Prillwitz, bei dem unsere Mutter im Haushalt arbeitete. Ihre letzte Wohnung, zwei Zimmer und Küche, hatte unsere Mutter beim Bauern Malchow, mit dem wir ein gut nachbarliches Verhältnis hatten. Auch heute noch haben wir einen guten Kontakt.



     
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