Ende November,
Mutti und ich machten Mittagspause auf der Baustelle Frauenklinik,
traf die Restfamilie (4 Kinder: 12. 11 9. 2 Jahre) ohne Hab und
Gut bei uns ein, voran Helmut, mit Uschi auf den Schultern. Wie
hatten sie es nur geschafft? „Wir
mußten die Wohnung verlassen. Die Deutschen wurden zusammengetrieben.
Wir hauten aber ab, um zu euch zu kommen,“ so seine Erklärung,
und froh, zusammen zu sein. Wie richtig hatten sie entschieden.
Was wäre aus unserer Familie geworden, was aus den Kindern,
allein dem Schicksal überlassen? Wie mutig waren sie! Was
nun? Unsere Mutter entschied: „Wir gehen zurück, versuchen
in die Wohnung zu kommen, um noch Kleinigkeiten zu holen.“
Aber wir durften nicht mehr in die
Wohnung. Die Miliz hatte den Wohnkomplex abgesperr t. Auf der
Karthäuser Straße,
in der Höhe des Kolpingheimes, standen die zusammengetriebenen
Deutschen, meist Alte und alleinstehende Mütter mit ihren
Kindern unter Bewachung der polnischen Miliz. Wir reihten
uns mit ein, trafen dort auch die Familie Heintze. Deren Tochter
war mit uns gemeinsam von der Arbeit in Langfuhr gekommen.
Unsere Kolonne bewegte sich unter
Bewachung über Neugarten,
Olivaer Tor, Schichauwerft, Neuschottland in das Narvik-Baracken-Lager.
In diesem Lager war Onkel Leo am 26. Mai 1945 verstorben. Wir verbrachten
in diesem Lager ca. zwei Tage. Verpflegung und Schlafstätten
gab es nicht. Ja, man verlangte von uns noch Geld, deutsche
Reichsmark, um überhaupt Danzig verlassen zu dürfen.
Unsere Arbeitsstelle, die Frauenklinik,
war vom Lager nicht weit entfernt, und weil wir noch Lohn zu
bekommen hatten, baten wir die Miliz, diesen holen zu dürfen.
In Begleitung eines Postens gingen Mutti und ich, sowie Lucie
Heintze, zur Frauenklinik. Der polnische Meister ließ uns
Mittag geben und zahlte uns den Lohn aus: 100 Zloty pro Person.
Mit diesem Geld kauften wir Eßwaren, insbesondere Weißbrot,
ein Brot 20 Zloty, und behielten noch etwas für unterwegs.
Somit war die Verpflegung für zwei bis drei Tage gesichert.
Auf dem Rückweg nahm
uns keiner etwas weg, wir hatten ja Bewachung. Im Lager warteten
schon die Geschwister, freuten sich, uns wiederzusehen.
Am nächsten Tag zogen die Zusammengetriebenen
in Kolonne unter Bewachung zum Güterbahnhof nach Danzig. Hier
war ein Zug mit unterschiedlichen Waggons zusammengestellt worden:
Personenwagen ohne Fenster, Viehwaggons und offene Wagen. Wir erkämpften
Plätze in einem Personenwagen. Nun hatten wir wenigstens ein
Dach über dem Kopf. Es herrschte kühles, naßkaltes
Wetter. Im Waggon kein Wasser, keine intakte Toilette, kein Licht
und zerstörte Fensterscheiben. Wir warteten auf die Abfahrt
des Zuges. Ein polnischer Offizier kam durch den Waggon und sagte
uns, daß auf Beschluß der Siegermächte die Deutschen
das Land östlich der Oder zu verlassen hätten. Nach langer
Wartezeit setzte sich der Elendszug in Bewegung. Aus deutschen
Kehlen erklang das alte Volkslied „Nun ade, du mein lieb Heimatland“.
Es war mehr ein Schluchzen als Gesang.
An die Fahrzeit sowie die Strecke
können wir uns nicht mehr
erinnern. Unterwegs wurden auf den Bahnhöfen weitere Vertriebene
zugeladen. Bei den Aufenthalten auf offener Strecke wurde den Menschen
noch das Letzte, was sie hatten, abgenommen. Manch einer mußte
ein warmes Bekleidungsstück ausziehen. Diese Aufenthalte wurden
auch zur Verrichtung der Notdurft genutzt, oder um Wasser zu holen
und zum Kochen. Wann es weiterging, konnte uns niemand sagen. Die
Lok pfiff, und ein jeder mußte zusehen, wieder auf den Zug
zu kommen. Manch ein Alter oder auch ein Kind blieben zurück.
Auch an eine Bewachung kann ich mich
nicht erinnern. Auf dem Bahnhof in Scheune bei Stettin angekommen,
mußte der Zug verlassen
werden. Uns scheint, dort Tausende schon Angekommene gesehen
zu haben. Von hier, so sagte man uns, sollten uns Züge aus
der russisch besetzten Zone abholen.
Unterkunftsmöglichkeiten gab es
nicht. Bei dem naßkalten
Wetter kampierten die Menschen im Freien. Was für ein Hohn!
Auch hier wurden Reichsmark verlangt, um weiterfahren zu können.
Verpflegung gab es auch nicht. Nur gut, daß wir noch etwas
Weißbrot hatten. Andere hatten nichts. Oft fragen wir uns,
wie unsere Schwester Uschi mit ihren zwei Jahren diese Strapazen überstehen
konnte. Keinen Tropfen Milch, und das schon monatelang. Nur trockenes
Brot und Wasser.
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